Frauenfelder Woche

Frauenfeld · 31.01.2024

Leben im Tiny House

Zurück zum Essentiellen

Auf dem Grundstück der Bahnhofstrasse 23 in Frauenfeld thront ein ganz besonderer Neubau. Neben dem altehrwürdigen Mehrfamilienhaus im Patrizierstil aus dem Jahre 1924, wohnt das Ehepaar Caleb Kunz seit Oktober letzten Jahres in seinem gemütlichen Tiny House. 

 

 

Immer mehr Menschen suchen nach einem alternativen Lebensstil, der von Minimalismus und Nachhaltigkeit geprägt ist. Der gebürtige Winterthurer Mario Angelo Kunz und seine aus Dublin Irland stammende Ehefrau Anna Caleb Kunz haben sich für genau diesen Weg entschieden. Auf 39 Quadratmetern wollen sie ihren «Ausklang» im Tiny House geniessen. Doch dieses Projekt ist mehr als nur ein «kleines Zuhause» – es ist ein Statement für einen einfacheren und bewussteren Wandel. Eine Fokussierung auf das Essentielle in der Gegenwart. Alles begann mit einem inspirierenden Wochenendkurs zum Thema «Alter und Wohnen», den das Ehepaar Caleb Kunz organisierte. Daraufhin erwarben sie 2002 das alte Patrizierhaus an der Bahnhofstrasse 23 in Frauenfeld und bauten es zu einem Mehrfamilien-Generationenhaus um. Eine der beiden Vierzimmerwohnungen bewohnte das Ehepaar selbst, zuzüglich dem Studio im Dachgeschoss, welches die Gesangslehrerin und Opernsängerin Anna Caleb Kunz für ihre kreative Arbeit nutzte. Anna und Mario lernten sich im Februar 1989 in Firenze bei einem italienischen Sprachkurs kennen und sind mittlerweile seit 34 Jahren verheiratet. «In unserer Lebensphase geht es ums Reduzieren und Loslassen. Die Wohnung in unserem Haupthaus wurde mit zunehmendem Alter zu gross für uns. Wir wollten den Platz optimaler nutzen und die einzigartigen Räumlichkeiten einer Familie überlassen», berichtet Anna. So entstand die Idee vom Tiny House auf dem eigenen Grundstück.


 


Selbst ist der Mann


Als gelernter Schlosser hat Mario damals den Aufbau des heutigen Eisenwerks in Frauenfeld mitgestaltet, an seine jahrelange fachliche Erfahrung angeknüpft und die Bauleitung gleich selbst übernommen. Sein persönlicher Einsatz spiegelt sich im Ergebnis wider und verleiht dem Tiny House eine individuelle Note. «Nun ist mir schon fast ein wenig langweilig nach dem grossen Wagnis», sagt Mario lachend. «Es war eine unglaublich spannungsvolle Zeit.» Tiny House-«Gegner» habe es nur wenige gegeben, meint er. «Zudem muss ich entgegengesetzte oder unterschiedliche Meinungen ja nicht als Angriff sehen. Ich fand die daraus resultierenden Diskussionen interessant, sie haben mich in gewissen Bereichen sogar inspiriert und weitergebracht.» Kleine Hürden würde es überall geben und Baustellen seien stets ein kleiner «Abenteuerspielplatz». Anna kann davon wortwörtlich ein Liedlein singen, hat sie sich bei der Arbeit mit der Schubkarre sogar den Arm gebrochen. Glücklicherweise ist die Unfallverletzung verheilt und das neue Zuhause erstrahlt nun in seiner ganzen Pracht.


 


Gemeinsam gehts besser 


In Kooperation mit der Stiftung Heimstätten Wil und Stift Höfli Gartenbau wurde die Realisierung des Tiny House mit Terrasse und angrenzender Begrünung zu einem Inklusionsprojekt. Dabei wurde die Heimstätten Wil sogar mit der Goldmedaille für ihre Integrationsarbeit prämiert. Dieses besondere Miteinander schenkt der Konzeption eine soziale Komponente und fördert den Gedanken der Gemeinschaft. «Mit 46 Jahren begann ich meine Zweitausbildung zum HF-Pfleger mit Schwerpunkt Psychiatrie in der Klinik Littenheid. Das soziale Engagement lag mir stets am Herzen und ich spürte, dass ich mit meiner neuen beruflichen Tätigkeit am richtigen Ort bin», eröffnet Mario. Dabei lernte er die Stiftung Heimstätten Wil kennen. Rund 400 Erwachsene mit einer Beeinträchtigung finden dort einen Wohn- und/oder Arbeitsplatz, der ihren Bedürfnissen entspricht und der sich an ihren Stärken orientiert. «Wir waren uns sofort einig, dass wir dem Tiny House in diesem Rahmen Atem einhauchen wollen und dabei Menschen eine sinnerfüllte Tätigkeit mit einem sichtbaren Resultat schenken möchten», so Mario weiter. Ein besonderer Dank geht dabei an den damaligen Abteilungsleiter der Heimstätten Wil, Benjamin Schindler. – Ein Wirken Seite an Seite.


 


Durchdachtes Konzept


Zusammen mit dem Architekten S. Müller AG Holzbau hat Mario ein wahres Meisterwerk der «Durchdachtheit» geschaffen. Über ein Jahr lang wurde am Konzept gefeilt mit dem Ergebnis eines gemütlichen Daheims, das einerseits die vorhandenen Verhältnisse optimal nutzt und ebenso auf Nachhaltigkeit setzt. Jeder Aspekt wurde sorgfältig überlegt, um maximale Funktionalität bei minimaler Fläche zu gewährleisten. Mit einer Länge von 11,30 Metern und einer Breite von 4,50 Metern wurde das Haus nach den spezifischen Bedürfnissen des Ehepaars gestaltet. Geliefert wurde das fertiggestellte Zuhause mittels Sondertransport-Lastwagen und anschliessend durch einen Kran auf ihr Grundstück gehievt. Jeder Quadratzentimeter ist genutzt; ein grosszügiges Bad mit Dusche, eine geräumige Küche, ein integriertes Büro im Wandschrank mit Schiebetüren, ein Reduit als «Keller» inklusive kleiner Werkstatt sowie ein offener Schlaf- und Wohnbereich – all dies wurde in das kleine, aber feine Häuschen integriert. «Ich habe nie so ordentlich gewohnt», verrät Mario. «Es ist fast unmöglich, hier eine Unordnung zu pflegen.» Anna betont ausserdem die Flexibilität des Designs. «Dank guter Planung haben wir mehr Platz als erwartet.» Die meisten Möbel sind zusammenklappbar, in der Höhe verstell- oder im Zimmer verschiebbar. Im Alltag können so Tisch, Beleuchtung und andere Raumverhältnisse nach Bedarf angepasst werden. Die Intimität sei jedoch schon ein Thema und man müsse freimütig und aufgeschlossen sein. Dies sei für die Schweizer-Mentalität teils eine Herausforderung: «Besucher sehen unser Bett oder hören die Toilettengeräusche, dies gehört nun einmal dazu», illustriert Mario mit einem Augenzwinkern. Die Entscheidung gegen fixe Wände zugunsten von flexiblen Paravents eröffnet Kreativität und Anpassungsfähigkeit und macht das Tiny House zu einem inspirierenden Wohnobjekt.



Wirkungsvolles Wohnen


Wie bereits erwähnt, spielt Nachhaltigkeit eine zentrale Rolle. So wurde so viel wie möglich recycelt, auch bei der Möbel-Einrichtung. Die Bodenheizung ist an die Erdwärme-Pumpe des Haupthauses angeschlossen, der Heisswasser-Boiler läuft über eine Luftwärmepumpe und mithilfe einer Photovoltaikanlage auf dem Dach des Tiny House gewährleistet das Ehepaar eine nachhaltige Energieversorgung. Ebenso wird bewusst auf einen Fernseher und auf einen Geschirrspüler verzichtet. Eine weitere Glanzleistung stellt die 11x3 Meter grosse, überdachte Terrasse dar. Sie dient als Erweiterung des Wohnraumes, schenkt einen idyllischen Ausblick nach draussen und fungiert als nahtlose Verbindung zwischen Innen- und Aussenbereich. Auch bezüglich der Fensterfronten war sich das Ehepaar sofort einig. «Die Fenster gehen bewusst nicht bis ganz zu Boden, um weitere Nutzfläche für Möbel zu schaffen», erklärt Mario. «Zudem bin ich als Irin kein besonderer Sonnenmensch und brauche daher keine riesigen Fensterfronten», fügt Anna schmunzelnd hinzu. Das Leben im Tiny House wird hier zu mehr als nur einer Wohnform – es ist ein wahrer Ausdruck von Verantwortungsbewusstsein und Bescheidenheit.


 


Tiny Living


Im klaren Bewusstsein, dass Pension und das Wohnen im Tiny House Hand in Hand gehen, erfolgte die Eingewöhnung mit Bedacht. Die Frage nach begrenztem «Gebiet» zu zweit beantworten die beiden mit einem Lächeln. Das Tiny House schaffe Intimität und fördere die Nähe zueinander. Während den kalten Wintermonaten, in denen man oft drinnen sei, spiele die Alltagsgestaltung jedoch eine entscheidende Rolle. So biete das Dachstudio im Mehrfamilienhaus, welches das Ehepaar behalten hat, einen Rückzugsort für Annas künstlerische Begabungen. Ebenso würden sich die beiden an den Weiten der Natur sowie an ihrem Garten erfreuen. «Jeder nimmt sich seine Zeit für sich. Dabei ist eine offene Kommunikation sehr wichtig, damit das Zusammenleben auf engem Raum harmoniert», weiss Anna. Die Entscheidung zum Tiny Living wird vom Ehepaar klar bejaht. Die bewusste Wahl und gleichzeitige Herausforderung, weniger Materielles zu besitzen, schenke ihnen Freiheit und Zufriedenheit in ihrem Lebensstil.


 


Weniger ist mehr


Mario, der in all den Jahren bereits 24-mal umgezogen ist, betont die Befreiung von Dingen, die nicht gebraucht werden: «Weniger ‘versteckte Winkel‘ bedeuten weniger gedankliche Ablenkung, weniger Ballast. Der minimalistische Ansatz schafft Sphäre für bewusstes Leben, die Reduktion auf das Wesentliche und fördert so das emotionale Wohlbefinden.» Anna ergänzt: «Wir fühlen uns sehr wohl und würden es nicht mehr anders wollen.» Für sie liegt die Erfüllung nicht nur im eigenen Glück, sondern auch in der Freude, neuen Mietern ein schönes Zuhause ermöglicht zu haben. Die wertvolle Nachbarschaft mit mehreren Generationen wird vom Ehepaar als kostbares Geschenk empfunden. «Wir sind sozusagen eine kleine WG mit Gemeinschaftsgarten geworden». Die Unterstützung wäre allseits spürbar gewesen und sie hätten das spannende Unterfangen mit Begeisterung und Kooperationsbereitschaft begleitet.


 


Alles in Einem


Mario und Anna betonen ihre Liebe zu Frauenfeld, einer Stadt, die ihnen  die Schönheit der Natur und die Annehmlichkeiten eines urbanen Lebens bietet. «Die Stadt Frauenfeld hat das besondere Bauprojekt mit Offenheit und Wohlwollen angenommen. Die kooperative Haltung der Stadtbehörden und die schnelle Bearbeitung der Baubewilligung, unter anderem durch Bauberater Schorsch Hergovits, zeugen von einer positiven Einstellung gegenüber innovativen Wohnkonzepten», sagt Mario dankend. Frauenfeld ist für das Ehepaar der ideale Ort für ihr Tiny House. Ganz nach dem Motto: «Meine Stadt – Mein Bezirk» und «my home is my castle».


Sarah Utzinger