Frauenfelder Woche

Frauenfeld · 18.10.2023

«Ich habe schon viele meiner Bubenträume erfüllen können»

Nach seinem fürchterlichen Crash in ein Absperrgitter beim EM-Zeitfahren in Holland musste der Frauenfelder Radprofi Stefan Küng die Saison sofort beenden. Jetzt blickt er kurz zurück und freut sich auf das spezielle Jahr 2024.

 

 

Beim sehr ausführlichen Gespräch für eine Saison-Schlussbilanz sieht Stefan Küng, der Thurgauer ist seit 2015 Profi, immer noch etwas lädiert aus. Die Haare auf dem Kopf überdecken eine längere Narbe und jene nach der Operation am Jochbein ist durch ein Pflaster abgedeckt. Selbstverständlich steckt die operierte Hand noch in einer Manschette und der Unterarm ist mit einigen schwarzen Tape-Pflastern «geschmückt».


Wie geht es dem 29-Jährigen? Vor allem, wie ist die beim Horror-Sturz am 20. September erlittene Hirnerschütterung verkraftet und wie verläuft die Heilung beim operierten Mittelhandknochen? «Eigentlich geht es den Umständen entsprechend überall recht gut. Auch mit dem Kopf».


Der am 16. November 30 Jahre alt werdende Thurgauer Stefan Küng beantwortete unsere Fragen spontan.


 



Wie sieht die Saisonbilanz aus?


Die Grundbilanz ist positiv, doch das Jahr war etwas eine Achterbahn-Fahrt. Ich bin gut gestartet, dann hat mich eine Magen-Darm-Grippe zurückgeworfen, aber die Klassiker waren nicht schlecht. Je Fünfter bei der Flandern-Rundfahrt und bei Paris-Roubaix. Im Giro-Zeitfahren habe ich nur mickrige zwei Sekunden auf den Sieger verloren und das Zeitfahren an der Tour de Suisse erfreulicherweise sogar gewonnen. Der fünfte Rang im WM-Strassenrennen war unerwartet positiv und die Goldmedaille mit dem Mixed-Team war schön. Im WM-Zeitfahren haben viele kleine Details nicht gepasst.


 



Welches war Dein Höhepunkt?


Ganz klar der Triumph beim Zeitfahren an meinem Lieblings-Rennen, der Tour de Suisse. Da habe ich mit dem Strassen-Weltmeister Remco Evenepoel und Wout Van Aert zwei absolute Hochkaräter bezwungen.


 



Was war der Tiefpunkt?


Da gibt es ganz klar deren zwei. Der Tod von Gino Mäder nach seinem Sturz in der Tour de Suisse fuhr mir grausam ein, deshalb musste ich die Rundfahrt abbrechen. Da wurde ein junges Leben brutal ausgelöscht. So etwas könnte auch mir passieren. Trotzdem gehe ich nicht ängstlich durchs Leben, sondern mit Optimismus. Aber klar, zu Beginn der Tour de France musste ich wegen diesem tragischen Ereignis richtig «chätschen», weil ich mit den Gedanken an einem ganz anderen Ort war. Persönlicher Tiefpunkt war bestimmt der Sturz an der EM. Ich habe mir den Saisonabschluss ganz anders vorgestellt. Die Schweizer Zeitfahr-Meisterschaft in Gansingen hätte ich nach bereits fünf Erfolgen gerne wieder gewonnen.


 



Wieso halten fast alle Radprofis im Zeitfahren den Kopf so extrem tief?


Dazu gibt es nur eine Antwort, um möglichst die allerbeste aero-dynamische Position so lange wie möglich halten zu können. Ich habe das Absperrgitter aus den Augenwinkeln einmal ganz kurz im Blick gehabt, aber wenn du mit 60 Km/h unterwegs bist, ist es recht schwierig abzuschätzen, wie schnell du da bist. Die Anweisungen für Hindernisse oder Kurven kommen sowieso aus dem Begleitauto hinter dir. Und noch etwas: Ich habe schon Gold wegen einigen Zehntels-Sekunden verloren, das versuchst du immer das Optimum herauszuholen.


 



Warum bist Du nach dem schweren Sturz mit diesen erheblichen Verletzungen an der EM trotzdem weitergefahren?


Das ist für einen Radprofi einfach der pure Reflex. Noch total voll mit Adrenalin heisst das sofort aufstehen, die Glieder schütteln, das Velo anschauen und notfalls ein neues Rad nehmen und weiterfahren. Klar, im Nachhinein muss man sagen, das hätte man anders lösen müssen. Ich mache aber niemandem einen Vorwurf, denn eigentlich hätte der internationale Kommissär eingreifen müssen.


 



Fuhr gleich hinter Dir im Auto der Schweizer Nationaltrainer Michael Albasini?


Nein, Alba war mit Stefan Bissegger unterwegs. Im Begleitauto sass der Sportliche Leiter meines französischen Rennstalles Groupama-FDJ.


 



Was hat Dir nach diesen brutalen Ereignissen geholfen?


Eigentlich kann ich mich absolut auf etwas fokussieren. Darum habe ich nach der Weltmeisterschaft kurze Ferien mit meiner Familie gemacht. Dann baute ich wieder Hochspannung für die Europameisterschaft auf. Und dann passierte dieses Malheur. Also sofort wieder positiv denken.


 



Ab wann darfst Du wieder richtig trainieren?


Jetzt müssen zuerst die Operations-Narben am Kopf und an der Hand verheilen. Irgendwann folgt danach der abschliessende Arztbesuch und dann hoffe ich, dass ich anfangs November wieder auf dem Velo sitzen darf. Ab diesem Datum möchte ich voll ins Winter-Training einsteigen. Allerdings mache ich logischerweise bereits jetzt alles, um optimal zurück kommen zu können.


 



2024 wird ein spezielles Rad-Jahr?


Absolut. Mit den Olympischen Spielen in Paris und der Weltmeisterschaft in der Schweiz, das ist grossartig. Aber ich setze mich nicht speziell unter Druck. Ich habe schon viele meiner Ziele erreicht, von denen ich als Bub nur geträumt habe. Aber mein Ehrgeiz ist sicher weiterhin ungebrochen und kein bisschen kleiner geworden.


 



Die Antwort ist ein bisschen vage?


(Der 193 cm grosse und 83 Kilogramm schwere Stefan Küng lacht herzhaft). Wenn alles gut läuft, dann kann ich an beiden Gross-Anlässen sicher um Titel und Medaillen kämpfen. Es gibt noch Potenzial, wo ich mich verbessern kann.


 Interview: Ruedi Stettler