Frauenfelder Woche

Frauenfeld · 13.10.2021

In Erinnerung an Josef Räschle, Architekt und Unternehmer

Am vergangenen Freitag, 8. Oktober 2021, nahmen zahlreiche Freunde und Bekannte beim Trauergottesdienst in der Katholischen Stadtkirche Abschied von Josef Räschle. Sein Lebenskreis hat sich am 18. September im 94. Altersjahr geschlossen.

 

 

Josef Räschle war am 7. März 1928 in Frauenfeld geboren worden, wo er auch die Jugend- und Schulzeit verbrachte. In der Verbindung trug er den Namen Boccia. Nach der Lehre als Hochbauzeichner besuchte Josef Räschle das Technikum Winterthur. Mitte der 50er Jahre gründete er ein Architekturbüro, das in Spitzenzeiten in Frauenfeld und Zürich rund 30 Mitarbeitende zählte. Soweit die Eckdaten zu seinem Leben.
Als ich Josef Räschle vor zwei Jahrzehnten einmal für ein Zeitungsinterview anfragte, schaute er mich an und sagte mit fast väterlicher Stimme «willst du nicht lieber jemand anderes interviewen? Es gibt doch viel interessantere Menschen als mich». Doch ich wollte ihn interviewen, denn er hat die Entwicklung des Einkaufsorts Frauenfeld beeinflusst wie kein Zweiter.
Ende der 80er Jahre kaufte Josef Räschle in Frauenfeld alte, teilweise baufällige Liegenschaften zwischen Altstadt und Bahnhofareal auf mit der Vision, an dieser Stelle ein Einkaufscenter zu errichten. Also mitten in der Stadt und nicht auf der grünen Wiese, wie das sonst überall der Fall war (Glattzentrum, Waro Rickenbach). «Man muss doch dort einkaufen können, wo man lebt», sagte Josef Räschle damals dazu.
Am 6. Juni 1991 war es dann so weit – der Baustart fürs EKZ Passage erfolgte. Zwei Jahre später brach mit der Eröffnung dieses ersten Einkaufscenters in Stadt und Region Frauenfeld ein neues Zeitalter im Einkaufen an. Die Migros im EKZ Passage gehörte auf den Quadratmeter umgerechnet rasch zu den umsatzstärksten Migrosmärkten in der ganzen Schweiz. Das löste einen einmaligen Wettlauf aus und es kamen weitere Grossverteiler nach Frauenfeld.
Aber auch Josef Räschle lehnte sich nicht zurück. So hat er im Jahr 2005 mit dem Aufgang beim Goldenen Adler die attraktive Fusswegverbindung zwischen Bahnhof und Altstadt vervollständigt. Dabei baute er mit Beteiligung der Stadt auch eine öffentliche Liftanlage, die gehbehinderten Personen diesen Übergang erleichtert. Damit wurde die «Passage» definitiv zur Passage. Ebenfalls 2005 hat sich Josef Räschle entschlossen, die «Passage» auszubauen. Heute ist dieses EKZ mit rund 15 000 Quadratmetern Verkaufsfläche eines der grössten Einkaufszentren im ganzen Thurgau.
Diesen grossen Einsatz von Josef Räschle für die Entwicklung der Innenstadt würdigte der Stadtrat im Jahr 2010 mit dem Anerkennungspreis.
Josef Räschle hat auch im sozialen Bereich Grossartiges geleistet. So gründete er im Mai 1979 aus einer familiären Betroffenheit heraus das Stift Höfli, die gemeinnützige Stiftung für junge Menschen mit Lerneinschränkungen. Mittlerweile können in den Ausbildungsstätten in Stammheim, Nussbaumen und Frauenfeld rund ein Dutzend naturnahe Berufe erlernt werden. In den 42 Jahren seit der Gründung haben im Stift Höfli unzählige junge Menschen ihr berufliches Rüstzeug erhalten. Gleichzeitig wurden sie gesellschaftlich integriert.
Der hohe Stellenwert des Stift Höfli kommt jeweils beim Abschlussfest zum Ausdruck, wenn die Absolventinnen und Absolventen ihre Diplome entgegennehmen. Nicht selten wischen manche von ihnen eine Träne aus ihren Augen – aus Freude und Stolz über das Erreichte. Das sind stets auch Momente, in denen das grosse Werk von Josef Räschle ins Bewusstsein gerufen wird.
Es gäbe noch viel zu erzählen über Josef Räschle – beispielsweise über weitere Grossprojekte und auch über sein Hotel auf Mallorca. Dieses hatte er übrigens einst auf einem Stück Land gebaut, das er als Lohn für seine Planungen für eine Bungalow-Siedlung erhalten hatte (die dort hätte zu stehen kommen sollen). Josef Räschle hatte auch grossen Respekt vor der Natur und der Tierwelt und er setzte sich für deren Schutz ein. Auch das hat sein Handeln stets geprägt.
Josef Räschle hat sehr viel bewegt und Grosses geleistet. Sein Lebenswerk ist einzigartig und verdient uneingeschränkt Respekt. Seine Freunde und Bekannten werden ihn in ehrendem Andenken in Erinnerung behalten. Dies auch im Bewusstsein, dass die Welt ohne Menschen wie Josef Räschle um einiges ärmer wäre.

Andreas Anderegg