Frauenfelder Woche

Frauenfeld · 17.04.2019

Röntgen in der Schwangerschaft

Sehr geehrte Damen und Herren

Ich darf heute als Gastautor des Kantonsspital Frauenfeld einige Gedankengänge und Erkenntnisse zum Thema Röntgenstrahlen und Schwangerschaft mit Ihnen teilen.

 

 

Als Mann und Ärztlicher Leiter des Radiologischen Instituts in Weinfelden, welches u.a. im Bereich der Brustkrebsfrüherkennung mit der Spital Thurgau AG
kooperiert, stehe ich dem Thema Schwangerschaft naturgemäss weniger nah als eine werdende Mutter. Und als Eltern weiss man intuitiv, dass der Schutz des eigenen Kindes bereits beim Ungeborenen beginnt, was viele Frauen durch das selbstlose Vermeiden schädlicher Einflüsse während der Schwangerschaft tatkräftig belegen. Aber wie verhält es sich, wenn wegen einem entzündeten Zahn ein Röntgen beim Zahnarzt ansteht, oder nach einem Misstritt der schmerzende Knöchel geröntgt werden soll? Oder waren Sie vielleicht sogar schon unbemerkt schwanger, als ein Röntgenbild oder Computertomographie (CT) angefertigt worden ist?
Wie alle ionisierenden Strahlen
können Röntgenstrahlen potentiell biologische Schäden, also beispielsweise Missbildungen, geistige Behinderung oder Krebsleiden, verursachen. Es ist darum naheliegend, dass Röntgenuntersuchungen während der Schwangerschaft vermieden oder wann immer möglich durch eine andere Bildgebung (Ultraschall, MRT) ersetzt werden sollten – insbesondere auch, wenn die Behandlung des etwaigen Leidens ohnehin noch bis nach der Schwangerschaft warten kann. Untersuchungen, bei denen sich die Gebärmutter und Kind direkt im Röntgenstrahlenfeld befinden, sollten nur bei vitalen (d.h. lebensbedrohlichen) Indikationen durchgeführt werden. Ganz konkret sind leider Missbildungen, geistige Behinderungen oder auch Embryonaltod ab einer Gebärmutter-Strahlendosis von 50-100 mSv (Milli-Sievert) zu befürchten, was circa dem 25- bis 50-fachen der jährlichen Strahlendosis entspricht, welcher eine Schweizerin aus natürlichen Quellen ausgeliefert ist.
Hierzu nun aber im Vergleich: die effektive Strahlendosis eines Langstreckenflugs umfasst etwa 0.1 mSv und bei den meisten diagnostischen Röntgenaufnahmen nur etwa 0.001 – 3 mSv, während bei einer Computertomographie je nach Organregion auch effektive Dosen von mehr als 10 mSv möglich sind. Der Körper der Mutter schützt dabei das ungeborene Kind in der Regel aber zusätzlich durch Absorption vor der gesamthaft eintretenden Strahlung, so dass zum Beispiel beim Lungenröntgen nur noch etwa 0.0005 mSv als Streustrahlung in der Gebärmutter eintreffen und entsprechend keine Missbildungen am Kind zu erwarten sind. Zwar werden in der Strahlenschutzdebatte bis auf Weiteres auch kleinste Dosen mit einer nicht auflösbaren Restunsicherheit bezüglich Schädlichkeit versehen bleiben (im Beispiel des Lungenröntgen erhöht sich das hypothetische Krebsrisiko um intuitiv kaum fassbare 0.00000005%), doch der Aufschub einer wichtigen Diagnose und Behandlung kann gegeben­en­falls weit gravierendere Gefahren für Mutter und Kind mit sich bringen. Glücklicherweise ist also unter Berücksichtigung der medizinischen Notwendigkeit eine Bildgebung (auch mit Röntgenstrahlen) heutzutage an den meisten Körperregionen auch während der Schwangerschaft vertretbar und meist risikoarm möglich.
Was aber tun, wenn die Schwangerschaft erst nach der Röntgenuntersuchung oder Computertomographie festgestellt wird? In der frühen Implantations- und Präimplantations­phase vermag der Keim durch typische Röntgenstrahlung zugefügte Schäden in der Regel zu reparieren oder stirbt ab – hier besteht also letztlich kein Handlungs- oder Ergebnisspielraum. Die höchste Strahlenempfindlichkeit wird beim ungeborenen Kind der
Organbildungsphase zugeschrieben, welche etwa von der vierten bis zwölften Schwangerschaftswoche andauert, während in der späten Organogenese und nachfolgenden Fetalperiode Missbildungen unwahrscheinlicher werden. In jedem Fall empfiehlt sich der Kontakt zu Ihrer Ärztin, so dass zusammen mit den Daten der radiologischen Untersuchung überprüft werden kann, ob überhaupt weitere Dosis- und Risikoabklärungen notwendig sind. Diese Abklärungen entfallen, wenn der Embryo oder Fetus bei einer effektiven Dosis von weniger als 20 mSv nicht im Röntgenstrahlenbündel lag, was in der diagnostischen Radiologie glücklicherweise auf über 90% der Untersuchungen zutrifft (z.B. bei Röntgenaufnahmen der Lunge oder Gliedmassen).
Falls Sie sich sonst als schwangere Frau in der Situation wiederfinden, dass eine Röntgenuntersuchung bei Ihnen geplant oder durchgeführt worden ist, empfehle ich Ihnen grundsätzlich dasselbe: sprechen Sie mit Ihrer Ärztin und informieren Sie über Ihre Schwangerschaft und allfällige Zweifel zur Untersuchung. Denn Sie kennen sich selbst am besten und können immer dazu beitragen, dass unnötige Strahlenexpositionen vermieden werden, Zweifel ausgeräumt werden und die optimale Untersuchung für Ihr Problem gewählt wird.

Dr. med. Benedikt Kislinger
Ärztliche Leitung Radiologisches Institut Weinfelden AG