Frauenfeld · 19.03.2025
«Wichtig ist, dass die Figuren authentisch reden»
Buch und Film über eine Kindsmörderin

An einem Frühlingstag im Mai des Jahres 1904 rennt ein kleiner Junge mit seiner Mutter fröhlich durch den St. Galler Hagenbuchwald. Wenig später ist das Kind tot. Begraben unter einem Baum und mit Erde und Blättern bedeckt. Die Polizei sucht die Mutter des Jungen auf, um sie über den Tod ihres Sohnes Ernst zu informieren. Doch die 25-jährige Näherin Frieda Keller reagiert anders als erwartet. Sie gesteht den überraschten Polizisten den Mord an ihrem Sohn und lässt sich widerstandslos festnehmen. Danach aber schweigt sie, über ihr Motiv, ihre Vergangenheit und ihr Trauma. Am 12. November 1904 wird sie vom Kantonsgericht St. Gallen zum Tode verurteilt. Die im Thurgau lebende Schriftstellerin Michèle Minelli, die auf dem Iselisberg Schreibseminare gibt, hat sich schon 2015 in ihrem damals erschienenen Roman «Die Verlorene» mit diesem historischen Kriminalfall befasst. Für den Kinofilm «Friedas Fall» der am 21. März gleich dreimal Chancen auf einen Schweizer Filmpreis hat, schrieb Minelli auf Basis ihres Romans auch am Drehbuch mit. «Das war für mich eine neue Erfahrung. Ich habe sehr gerne im Team gearbeitet», erzählt die 56-Jährige.
Ihr Buch «Die Verlorene» ist 2015 erschienen. Wie Sind Sie auf den Fall von Frieda Keller aufmerksam geworden?
Michèle Minelli: Ein Journalist, der ein Buch von mir gelesen hatte, meldete sich bei mir und meinte, er habe einen interessanten Stoff für mich. Er schrieb damals für die Zeitschrift Kriminalistik über verschiedene Todesurteile in der Schweiz und stiess bei seinen Recherchen über den Fall Frieda Keller. Er kam mit einer Schachtel vorbei, in der ich Kopien und Originaldokumente vorfand – unter anderem das Gnadengesuch, ein Foto von ihr und den handgeschriebenen Lebensbericht. Das hat mein Interesse geweckt. Ich ging anschliessend in mindestens acht verschiedene Archive, um nachzuforschen und möglichst alles über ihr Leben zu erfahren.
Warum wollten Sie diese Geschichte erzählen?
Michèle Minelli: Als ich Frieda Kellers Zeilen las, war das für mich, als wenn sie – als Frau, die damals hier, wie ich jetzt, im Thurgau lebte – über die Zeit hinweg mit mir redet. Ich kannte sie nicht persönlich, sie hat aber sehr eindringlich und überzeugend geschrieben. Der Text war nicht über sie, sondern von ihr. Das heisst, man hört ihre Stimme, was sie sagt und denkt. Es fühlte sich für mich so an, als ob ich in Kontakt mit einem echten Menschen trete, der einmal gelebt hat. Das hat mich berührt.
Fiel es Ihnen schwer, sich für den Spielfilm «Friedas Fall» von gewissen historischen Figuren und Inhalten zu verabschieden?
Michèle Minelli: Nur um eine Figur tat es mir leid – die Frauenrechtlerin Helene von Mülinen. Sie war eine der Gründermütter der organisierten Schweizer Frauenbewegung und hat den Fall Frieda Keller damals breit in die Medien gebracht. Sie nahm in diesem Fall und deshalb erst auch im Film eine wichtige Rolle ein. Später wurde sie aus der Handlung herausgestrichen. Ich fand das schade, weil Helene von Mülinen für mich den gesellschaftlichen Umbruch widergespiegelt hat – doch man kann halt nicht alles zeigen in einem Film. Wir haben dafür fast alle ihre Dialogzeilen anderen Figuren gegeben und mit Erna Gmür, der Frau des Staatsanwalts, eine neue Figur erfunden, die den Part der starken Frauenfigur quasi übernimmt. Das war dann wiederum ein Geschenk.
Zudem mussten Sie für das Drehbuch die beschreibende Romansprache loslassen.
Michèle Minelli: Ja, das war nicht einfach. Ich habe vielfach überlegt, wie ich etwas knapp sagen kann und nicht so literarisch, aber trotzdem mit dem richtigen Wort. Mir war wichtig, dass das Drehbuch in einer schönen Sprache geschrieben ist. Ich wollte von Anfang an auf Mundart schreiben und historische Begriffe einbeziehen. Es war mir sehr wichtig, dass diese Figuren authentisch reden. Also habe ich im Thurgau und in St. Gallen nach dem regionalen Wortgebrauch zu jener Zeit recherchiert und mit drei Dialektberaterinnen gearbeitet. Meine Position für den Film war immer klar – es ist eine Geschichte aus der Ostschweiz, also muss auch Ostschweizer Dialekt gesprochen werden.
Schafft die direkte Sprache nochmals eine andere Nähe zur Figur? Dass man einen stärkeren Eindruck davon bekommt, was sie vielleicht gefühlt und gedacht haben mag?
Michèle Minelli: Für mich sind es jetzt zwei Friedas. Die dokumentarische vom Buch und die fiktionalisierte vom Film. Ich habe zu beiden Friedas eine unterschiedliche Nähe. Die Frieda aus dem Roman ist für mich die authentischere, aber die filmische schafft es mit der schauspielerischen Gestaltung und den Emotionen auch etwas Wahrhaftiges rüberzubringen. Irgendwo in dieser Schnittmenge findet sich die echte Frieda Keller.
Wie kommen Sie in die richtige Schreibstimmung?
Michèle Minelli: Ich muss ausgeschlafen sein. Für einen ersten Entwurf nehme ich mir gerne mehrere Tage am Stück Zeit. Wenn ich also drei Schreibtage zur Verfügung habe, kann es sein, dass ich den ersten einfach im Bett bleibe. Ich schreibe auch grundsätzlich nicht im Büro, wo beispielsweise noch Teilnehmerlisten der Schreibseminare herumliegen. Und dann trinke ich zwei Liter Tee durch den Tag. Beim Romanschreiben habe ich jeweils noch Musik im Hintergrund laufen, das gibt es beim Drehbuchschreiben für mich nicht.
Gibt es Tipps, die Sie in Ihren Schreibseminaren geben und selber im eigenen Schreibprozess vergessen?
Michèle Minelli: Tipps, die ich gebe und selbst auch befolge, sind: Sich das Geschriebene laut vorlesen und bewusst Schreibzeit einplanen. Was ich nun nicht mehr so häufig mache, ist: Jede Szene handschriftlich skizzieren während der Recherche. Ein anderer Tipp ist es, die eigene grösste Angst zu beschreiben und quasi zu Papier zu bringen – das hilft, sich dem Thema, vor dem man sonst vielleicht immer ausweicht, zu nähern. Doch vieles im Schreiben ist einfach ein Spüren und Ausprobieren.
Sie schreiben Romane, Jugend- und Drehbücher – wollten Sie sich nie auf ein bestimmtes Genre festlegen?
Michèle Minelli: Nein. Ich publiziere Bücher seit Anfang 2000 und damals hiess es noch, ich müsse mich festlegen, damit man mich einordnen kann. Das hat mich sehr frustriert, weil ich das nicht konnte. Mich hat nach jedem Buch wieder etwas Neues interessiert. Ich bin auch gerne in einem neuen Genre wieder Anfängerin. Diese Freiheit möchte ich behalten.
«Friedas Fall» ist dreimal für den Schweizer Filmpreis nominiert, der am 21. März in Genf vergeben wird. Kürzlich ist Michèle Minellis Jugendbuch «Keiner bleibt zurück» im Jungbrunnen Verlag erschienen. Der Film «Friedas Fall» kann am Freitag, dem 21. März, um 15 Uhr im Filmpodium Zürich für 5 Franken gesehen werden. Am Wochenende nach der Preisverleihung (22./23. März) werden alle ausgezeichneten Filme nochmals gezeigt. Dann ist der Eintritt gratis.
Sarah Stutte