Frauenfeld · 11.12.2024
Marcel Hug: «Man sollte eigentlich aufhören, wenn es am Schönsten ist»
Der Thurgauer Rollstuhl-Leichtathlet Marcel Hug hat alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Egal ob Marathons, oder Bahnrennen. Zudem hat er schon x-fach einen Weltrekord aufgestellt. Wie stuft er seine abgelaufene Saison ein und natürlich auch ein Blick voraus.
Tritt man um die Mittageszeit im Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil beim Haupteingang in die Mensa ein, dann ist sie proppenvoll. Zum abgemachten Termin trifft Marcel Hug ein. Und begegnet sogleich seinem Trainer Paul Odermatt, der wissen will, wie das Kraft-Training am Morgen verlaufen ist. Einige Momente später erkundigt sich jemand, wie es ihm nach dem Beinahe-Sturz am Marathon in New York gehe. So geht das weiter, bis einer der besten Rollstuhl-Leichtathleten der Welt mit seinem Service-Tablett endlich an die Kasse fahren und dann etwas abseits des Rummels das Mittagessen einnehmen kann.
Auch am Nachmittag beim Eintritt in die moderne Sporthalle das gleiche Bild. Der Betreuer eines Nachwuchs-Athleten erblickt Hug und ruft sofort: «Wie geht es dir?» Hug streckt seinen in einer Schiene steckenden und gebrochenen Finger der rechten Hand in die Höhe. Sofort steht der Mann neben ihm und will noch Genaueres wissen.
Das Malheur passierte in New York, als Hug gleich zweimal von Konkurrenten angefahren wurde. Daraus resultierte «nur» Platz vier. Es war die erste Marathon-Niederlage des Thurgauers seit Oktober 2021, als er in Chicago Zweiter wurde.
Der 38-jährige Pfyner, der jetzt in Nottwil wohnt, nimmt sich nach dem Essen fiel Zeit für Fotos und ein ausführliches Interview mit der Frauenfelder Woche.
Wie verläuft eine ganz normale Trainings-Woche?
An sechs Tagen pro Woche trainiere ich zweimal. Manchmal kommt eine kurze dritte Einheit dazu. Am Samstag gibt es nur eine Einheit. Ebenfalls in Nottwil absolviere ich dreimal ein Kraft-Training. Die Bedingungen am Paraplegiker-Zentrum sind optimal. Auch sport-medizinisch. Zudem hat im selben Gebäude Rollstuhl-Sport Schweiz sein Büro.
Wie dosiert sind die Einsätze vor einem Wettkampf?
Wenn ein Marathon ansteht, sorgt Trainer Paul Odermatt für die genauen Pläne. Dann wird Schritt für Schritt etwas abgebaut. Das ist auch vor Bahn-Wettkämpfen ähnlich.
Was änderte sich daran vor den strapaziösen Paralympics in Paris?
Da gingen wir genau gleich vor.
Gab es nach Paris eine Pause?
Nur drei Tage, weil gleich danach der Marathon in Berlin auf dem Programm stand. Es blieb kaum Zeit zur Erholung, obwohl ich vor allem mental enorm erschöpft war. Körperlich spürte ich die Anstrengungen weniger. Aber wir gingen die Übungs-Einheiten vorsichtig an.
Wie viele Renn-Einsätze hast Du im Jahr 2024 gehabt?
Das waren die sechs Marathons. Dazu kamen mehrere Rennen vom 6. bis 9. Juni an den «ParAthletics» in Nottwil, wo die gesamte Weltelite anwesend war. Heuer gab es wegen den Paralympics in Paris eher weniger Wettkämpfe als sonst. Auch bei Weltklasse Zürich und Athletissima Lausanne waren die Rollstuhlsportler diesmal nicht dabei.
Wie oft warst Du mit dem Flugzeug unterwegs?
Nur für vier Marathons und anfangs Jahr für die Bahnrennen in Dubai. An den Berlin Marathon sind wir mit dem Auto gefahren und an die Paralympics in Paris brachte uns der TGV. Eigentliche Trainingslager mache ich nicht. Ich bevorzuge die hervorragende Infrastruktur am Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil.
Wie sieht Deine sportliche Bilanz für diese Saison aus?
Grundsätzlich positiv. Ich konnte den Weltrekord über 5000 Meter erreichen und habe die Marathons in Berlin, Chicago, London und Boston gewonnen. In Paris schaffte ich einmal Bronze, zweimal Silber und vermochte am Schlusstag den Marathon für mich zu entscheiden. Das war sicher das Highlight. Sehr unglücklich ist der 5000er verlaufen, da kämpfte ich gegen eine dreifache chinesische Mauer, holte aber immerhin Silber. Die Silbermedaille über 1500 und Bronze über 800 Meter war sicher das Maximum, was ich erreichen konnte.
War Paris der Höhepunkt?
Es war schön, dass ich vier Medaillen gewinnen konnte. Denn es war auch wegen den Paralympics eine herausfordernde Saison. Vor allem auch mental, weil ich mir selber viel Druck auferlegt habe.
Gab es einen negativen Aspekt?
Das war der Sturz beim Marathon in Boston aus Eigenverschulden. Ich hatte die Kurve anders im Kopf und bin mit 36 Kmh zu schnell unterwegs gewesen und habe die Lenkung nicht richtig betätigt. Bitter war die Verletzung in New York, wo ich schon gesundheitlich handicapiert an den Start ging. Früh im Rennen ist mir ein Konkurrent in die Hand gefahren und dabei habe ich, wie sich erst später herausstellte, den kleinen Finger gebrochen. Etwa bei Hälfte der Distanz wurde ich von hinten gerammt und musste mich mit den Händen am Boden abstützen. Danach blutete ich wegen den lädierten Fingerkuppen sehr stark und hatte an den Handschuhen keinen Grip mehr. Da musste ich die Spitze ziehen lassen und wurde Vierter. Den noch vorgesehenen Marathon in Oita (Jap) musste ich wegen der Verletzung absagen.
Hast Du im Ausland nie Probleme mit Schlafen, oder mit Essen?
Das mit dem Essen funktioniert eigentlich immer. Auch mit dem auswärts schlafen. Früher bin ich immer knapp vor dem Wettkampf angereist. Jetzt, wo ich oft gewonnen habe, muss ich an den Pressekonferenzen (Veranstalter und Sponsoren wünschen das) anwesend sein. Ich reise deshalb drei bis vier Tage vor dem Start an.
Was schätzt Du an den Wettkämpfen im Ausland?
Sehr oft werden wir vom Flughafen abgeholt. Vor allem Japan ist äusserst rollstuhl-freundlich gebaut.
Bist Du vor Rennen noch nervös?
Vor den Paralympics-Finals in Paris hatte ich schon ein wenig Herzklopfen. Sonst ist eine gewisse Anspannung noch da.
Warst Du schon in den Ferien?
Drei Wochen Ferien sind geplant, vielleicht auch ein bisschen mehr.
Wie sieht das Winter-Training aus?
Im Winter steht das Grundlagen-Training deutlich im Vordergrund. Aber ich bin auch auf der Rolle und auf der Laufbahn. Das ist alles recht streng.
Gibt es Neues beim Material?
Mein Rennrollstuhl ist absolute Hightech-Klasse. Da gibt es wenig Spielraum. Bei den Handschuhen bin ich immer etwas am Tüfteln.
Fährst Du zweigleisig weiter, auf der Bahn und der Strasse?
In der jetzigen Planung ist noch beides. Sicher für die kommende Saison. Nachher sehen wir weiter.
Wann und wo findet der erste Wettkampf 2025 statt?
Sicher beim Trainingslager in Dubai im Februar. Eventuell starte ich auch am Dubai Marathon, der wäre aber schon Mitte Januar.
Wie viele Siege hast Du?
Keine Ahnung. Das weiss ich wirklich nicht. Statistik ist nicht so mein Ding. Aber ich habe sicher 30 Städte-Marathons gewonnen und mehrere Weltrekorde aufgestellt.
Hast Du Dir schon Gedanken über einen Rücktritt gemacht?
Natürlich. Aber fix ist nichts. Ausser, dass ich an den Paralympics 2028 in Los Angeles kaum mehr dabei bin. Viele Faktoren spielen bei einem Rücktritt mit. Die Gesundheit ist ein wichtiges Thema. Und natürlich auch der Gedanke, man soll aufhören, so lange man noch erfolgreich ist.
Was kommt nach dem Profi-Sport?
Gewisse Ideen sind da, in welche Richtung es gehen könnte. Ich werde schon länger regelmässig für Referate eingeladen. Manchmal sind das sogar zwei in einer Woche, aber dann kommt zwei Monate wieder gar nichts. Insgesamt sind es etwa zwei Dutzend pro Jahr. Vielleicht geht es für die Zukunft in diese Richtung.
Interview: Ruedi Stettler