Frauenfeld · 30.10.2024
«Wegschauen ist keine Lösung»
Expertin gibt Eltern wichtige Einblicke zum Thema «Mobbing»
Ein Jugendlicher wird von drei anderen Teenagern in einem Fast-Food-Restaurant drangsaliert. Sie schikanieren seine Freunde, stossen ihn herum, verschütten sein Getränk und beschimpfen ihn als «Ausländer». Die übrigen Restaurantgäste bleiben untätig. Stattdessen beschweren sie sich über etwas scheinbar Belangloses:
ihre zermatschten Burger.
Diese Szene stammt aus einer Burger-King-Kampagne gegen Mobbing, dargestellt von Schauspielern. Janine Müller, eine Expertin für Mobbing-Prävention, präsentierte dieses Video kürzlich bei einem Vortrag in der Schulanlage Reutenen, zu dem der Elternverein eingeladen hatte.
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Als die Technik während der Präsentation versagte, schilderte Janine Müller den Inhalt des Videos und stellte den Anwesenden eine prägnante Frage: «Was denken Sie, wie viele Menschen haben eingegriffen?»
Die Zahlen sind ernüchternd: Während sich 95 Prozent der Gäste über ihre beschädigten Burger beschwerten, griffen nur 12 Prozent ein, um dem schikanierten Jugendlichen zu helfen. Auf Müllers Nachfrage nach möglichen Gründen für diese Passivität kamen verschiedene Antworten der Zuhörer: «Es geht mich nichts an, ist ja nicht mein Kind», vermutete ein Teilnehmer als mögliche Haltung der Restaurant-Gäste. Ein anderer ergänzte die Angst, negativ aufzufallen, als möglichen Grund. Müller betonte die Wichtigkeit des Handelns: «Lieber einmal mehr hinschauen als wegschauen.» Selbst ein Anruf bei der Polizei sei eine Möglichkeit, die jedem offenstehe.
Die Dynamik des Mobbings verstehen
Um Mobbing zu begreifen, sei es wichtig, auch die Perspektive der Täter zu verstehen, erklärte Müller. «Das Kind, das Mobbing betreibt, macht es nicht zum Spass.» Der Täter sei wahrscheinlich auch selbst Opfer. Vielleicht in der Familie oder im Verein. Es reiche zum Beispiel aus, dass das Kind schlechte Noten nach Hause bringe und die Eltern deswegen immer mit ihm schimpfen. Wenn das Kind dann ein anderes Kind mobbt, dann spürt es: Ich ärgere und es kommt eine Reaktion: Das Opfer hat Angst oder wird wütend. Der Täter spürt Macht. «Es geht immer um ein Machtgefühl», so Müller. Wenn die anderen Kinder dann mitmachen, fühlt sich der Täter bestätigt.
Im Mobbing-Geschehen gibt es verschiedene Rollen: passive Opfer, die sich ducken, aktive Opfer, die sich zur Wehr setzen sowie Zuschauer und Mitläufer. Letztere, so Müller, machten Mobbing überhaupt erst möglich.
Die meisten Betroffenen warten zu lange, bis sie sich Hilfe holen. «Schweigen verbessert die Situation nicht», sagte Müller. Sie riet Eltern eindringlich, auch während der oft kommunikationsarmen Pubertät im Gespräch mit ihren Kindern zu bleiben. «Dranbleiben» sei hier das Schlüsselwort.
Cybermobbing in Klassenchats
Besonders alarmierend sei die Situation in Klassenchats, berichtete
Müller. Sie empfahl Eltern, diese regelmäßig zu kontrollieren: «Als Verantwortliche für Minderjährige müssen Sie wissen, was dort passiert.» Beim Cybermobbing gilt es, rechtliche Fristen zu beachten: Nach Entdeckung bleiben drei Monate Zeit für eine Anzeige.
Das Jugendstrafrecht greift ab 10 Jahren. Mobbing-Delikte wie Beschimpfung oder üble Nachrede sind Offizialdelikte, bei denen das Opfer selbst Anzeige erstatten muss. Die Strafen für Täter reichen von Arbeitseinsätzen bis zu sozialen Massnahmen. «Entscheidend ist, dass der jugendliche Täter die Chance erhält, daraus zu lernen.»
Wichtig sei auch die Beweissicherung von Chats, Videos und Bildern – allerdings ausschliesslich auf dem Gerät des betroffenen Kindes. Das Speichern auf dem eigenen Handy kann rechtliche Konsequenzen haben.
Konflikt oder Mobbing?
Bei einem Konflikt gebe es eine Lösung, ein Konflikt sei zeitlich begrenzt. Und: «Kinder brauchen Konflikte, sie lernen dort zum Beispiel sich durchzusetzen.» Ein Konflikt involviere oft zwei Personen. Bei Mobbing gehe es um Macht. Eine Person wird ausgegrenzt oder beschämt, meistens von einer Gruppe und nicht nur von einer Einzelperson.
Die Frage, die an diesem Abend viele Eltern beschäftigte, war: Wie kann ich Mobbing wahrnehmen, wenn mein Kind nichts sagt?
Wenn Kinder sich nicht anvertrauen, können psychosomatische Symptome wie Bauch- oder Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder Schulverweigerung auf Mobbing hinweisen.
«Ohne eigene Erfahrung ist es schwer nachzuvollziehen, wie sich Mobbing anfühlt», erklärte Müller, die berichtete, selbst auch Mobbing-Erfahrungen gemacht zu haben. Der häufigste und schmerzlichste Satz, den sie von Betroffenen höre, sei: «Ich habe keine Freunde mehr.» Deshalb sei es wichtig, dass Kinder Hobbys und soziale Kontakte ausserhalb der Schule pflegen.
Handlungsempfehlungen für Eltern
Janine Müller gab den Eltern einige Ratschläge mit, was im Fall von Mobbing zu tun sei: «Vermeiden Sie es, schnell zu handeln. Hören Sie ihrem Kind erst mal zu. Konfrontieren Sie nicht die Täter-Familie, das Mobbing wird am nächsten Tag noch stärker sein. Der Täter rächt sich. Beschuldigen Sie nicht die Schule, diese merke es oft gar nicht.» Denn Kinder seien schlau und übten das Mobbing fern von der Lehrperson aus. Das Wichtigste: «Das Kind braucht Eltern, die hinter ihm stehen. Reagieren Sie nicht ohne Einverständnis des Kindes. Man sollte die Interventionsmassnahmen mit dem Kind besprechen.»
Werden Kinder übergangen, erleben sie erneut Machtlosigkeit – genau wie beim Mobbing selbst.
Hilfe für Betroffene
Janine Müller bietet Beratung, Prävention und Begleitung zum Thema Mobbing an. Sie hält ausserdem Vorträge und gibt Resilienz-Training. Über ihre Webseite kann sie kontaktiert werden: www.janinemueller.ch.
Für Betroffene gibt es verschiedene Anlaufstellen. Eine davon ist die
Jugendpolizei. Diese bietet mögliche Lösungsansätze: Wenn schulinterne Massnahmen bislang erfolglos waren, kann der Beizug der Polizei überlegt werden, heisst es von der Pressestelle der Jugendpolizei, eine Absprache mit dem Kind ist dabei wichtig, weil der Beizug der Polizei ein Mobbing auch verstärken kann.
Jugendpolizei berät
Ausserdem besteht die Möglichkeit, den Fall zuerst ohne Nennung der involvierten Personen telefonisch bei der Polizei / Jugendpolizei zu schildern und sich bezüglich eines möglichen Vorgehens beraten zu lassen. Bei Antragsdelikten und Fokus, dass das Mobbing aufhört, führt die Jugendpolizei Gespräche mit den involvierten Kindern und Eltern und klärt über die Folgen und Konsequenzen auf, falls das Mobbing weitergehen sollte. Dies erfolgt idealerweise in Zusammenarbeit mit der Schule, sofern das Mobbing dort stattfindet. Bei Offizialdelikten oder wenn Eltern eine Anzeige erstatten möchten (Fokus Bestrafung), wird der normale strafrechtliche Weg eingeschlagen (Beweismittelsicherung, Einvernahmen, Anzeige an die Jugendanwaltschaft).
Auch die Stiftung Pro Juventute ist ein guter Ansprechpartner für Betroffene. Weitere Infos gibt es auf:
www.projuventute.ch/de.
Elke Reinauer