Frauenfelder Woche

Frauenfeld · 22.06.2022

«Die Kirche Uesslingen veranschaulicht den ökumenischen Gedanken»

 

 

Der Lokalhistoriker Angelus Hux ist der Geschichte der Kirche Uesslingen anlässlich des 150 Jahr Jubiläums nachgegangen und hat seine Erkenntnisse in einer Festschrift festgehalten. Im Gespräch verrät er, was die paritätische Kirche in Uesslingen so besonders macht.

Die Kirche Uesslingen wurde 1872 gebaut. Das Buch beginnt aber schon im Mittelalter – wieso ist die vorherige Geschichte wichtig für den heutigen Kirchenbau?
Wenn man die Parität verstehen will, dann muss man eben weiter zurückgehen. Schon seit der Reformationszeit teilen sich die Glaubensgemeinschaften die Kirche in Uesslingen. Zu jener Zeit war das nicht ungewöhnlich. Um 1550 wurden 27 von 48 Kirchen im Thurgau paritätisch genutzt, heute nur noch sechs oder sieben. Das Aushandeln der Verhältnisse zwischen den Konfessionen war ein stetiger Prozess, der sich bis ins 19. Jahrhundert fortsetzte. Als 1848 das Kloster Ittingen aufgehoben wurde, ging auch die Kirche von Uesslingen – als ehemaliger Klosterbesitz – an den Staat über. Schon zu diesem Zeitpunkt war die Kirche in baufälligem Zustand. Sie wurde als «unansehnlichste im ganzen Kanton» bezeichnet. Die Katholiken drängten bereits in den 1850er-Jahren auf einen Neubau. Schon damals sprachen sich der Kirchenrat und die Regierung für eine paritätische Kirche aus. Es sollte aber noch gut 20 Jahre dauern, bis die evangelische Seite die nötigen finanziellen Mittel gesammelt hatte und man sich über den Bauplatz und die architektonische Gestaltung einigen konnte.

Architektonisch verfolgt die katholische Kirche einen anderen Weg als die reformierte. Katholische Kirchenbauten sind meist reich geschmückt, reformierte eher karg. Wie konnte man in Uesslingen diesen Graben überwinden und den Neubau als gemeinsames Werk realisieren?
Auch das war ein zähes Ringen zwischen den beiden Parteien. Die evangelische Gemeinde hatte den Architekten Johann Joachim Brenner engagiert. Seine Entwürfe zeigen einen typischen reformierten Kirchenraum: einen einfachen Saal als Kirchenschiff mit einem schmucklosen Chor. Die katholische Seite hatte natürlich eine andere Vorstellung. Sie beauftragte darum den Luzerner Architekten Wilhelm Keller, der ein Gebäude mit einem reich ausgestatteten Chor entwarf. Schliesslich einigte man sich auf einen Kompromiss: Das Schiff und den Turm übernahm man von Brenners Plänen, der Chor wurde gemäss Kellers Entwürfen realisiert. Man muss sich vorstellen: Das war auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes zwischen Katholiken und Reformierten! Trotz des architektonischen Kompromisses blieben die Gemeinden in Uesslingen dennoch tief gespalten. An der Weihe der Kirche 1873 wollten die evangelischen Glaubensvertreter nicht teilnehmen. Die gemeinsame Nutzung der Kirche wurde in ihrer Geschichte immer als eine Zwischenlösung angesehen. Aber es ist bis heute dabei geblieben. Und als 1989 / 1990 die grosse Renovation anstand, wurden die Kosten in bestem Einvernehmen hälftig geteilt und die Eröffnung wurde gemeinsam gefeiert. Was für ein Unterschied zur Entstehungsgeschichte des Baus im 19. Jahrhundert!

Das Buch ist überaus reichhaltig. Wie lange haben Sie dafür recherchiert?
Im August 2021 habe ich von der Evangelischen Kirchgemeinde Uesslingen und der Katholischen Kirchgemeinde FrauenfeldPLUS den Auftrag erhalten, im Hinblick auf das Jubiläum ein Buch über die Kirche zu schreiben. Über ein halbes Jahr habe ich dann zunächst in Archiven recherchiert und Quellen ausgewertet. Ausserdem habe ich zahlreiche Interviews mit Kirchenvertretern geführt, die mir ihr Wissen weitergegeben haben. So wuchs langsam eine Chronologie heran, die ich schliesslich ausarbeiten konnte.

Gibt es etwas, das Sie bei Ihrer Recherche besonders überrascht hat?
Beeindruckt und berührt haben mich die Protokolle aus der Vorzeit des Kirchenbaus. Die Kirchenvorsteherschaft bildete damals auch ein Sittengericht, das über ethische und moralische Fragen entschied. Zum Beispiel ist in den Schriften die Rede von Vaterschaftsklagen, von verarmten, vereinsamten Witwen, von Waisenkindern und von zur Auswanderung Verurteilten. Das führte mir vor Augen, wie schlecht es zu jener Zeit um grosse Teile der Landbevölkerung stand, nicht nur materiell, sondern auch moralisch.

Was macht die Kirche Uesslingen für Sie aus?
Die Kirche veranschaulicht den ökumenischen Gedanken hervorragend. Obschon der Bau auf zwei verschiedenen Projekten beruht, zeigt er sich als perfekte Einheit. Das spiegelt sich auch im Kleinen. Zum Beispiel findet sich im Buch das Foto einer Vitrine, in der die katholische Monstranz neben den rituellen Gefässen der evangelischen Gemeinde aufbewahrt wird. Das ist ein schönes symbolisches Bild.

Vielen Dank für das Gespräch und Glückwunsch zum gelungenen Buch. 

Miriam Waldvogel