Frauenfelder Woche

Frauenfeld · 20.10.2021

«Go West, young man!»

Auf dem Velo von der Kesselstrasse an die Côte-d’Azur

Lange nach Westen gefahren, dann nach Süden abgebogen: Marseille und die Côte-d’Azur sind eine Wucht.

 

 

Am 20. Juli startete ich an der Kesselstrasse. Von Beginn weg aus eigener Kraft und nachhaltig reisen und sich freuen, wie sich die Landschaft mit jedem Velokilometer unmerklich ändert: Was gibt es Schöneres, und es erhält jung. Erster Halt Baden, Jugendherberge. In den nächsten Tagen Aarau-Olten-Solothurn-Biel und am südlichen Bielerseeufer entlang nach Erlach, mit groben Hindernissen: Wegen des Hochwassers ends Juli waren viele Radwege Land unter und unpassierbar. In Lausanne legte ich aufgrund des trüben Wetters einen zweiwöchigen Halt ein und erkundete wandernd die «Corniche», die Weinberge und Orte an der Genfersee-Riviera, die allerdings oft hinter Regen und Nebel verborgen lagen. Die Weinblätter rostrot, das viele Wasser hatte ihnen zugesetzt. Der Genfersee hingegen: Warm, er lud zum Bad. Auch in Genf blieb ich für Tage und bestieg ein paar Mal den Mont Salève. Sollte ich überhaupt weiterfahren? Die Covid-Situation in Frankreich hatte sich von Tag zu Tag verschlechtert und man riet mir ab, die Grenze zu queren (trotz zweimaliger Impfung). Zudem setzte anfangs August die «canicule» ein, die Hunde- oder besser gesagt: Affenhitze, es war sehr heiss. Wie würde sich das erst in Südfrankreich anfühlen? Ich wagte die Weiterfahrt.

Die Verwandlung
Tief und dunkelgrün-blitzend mit einem Hauch Schwermut verlässt die Rhône den Genfersee. Denn fortan fliesst sie mit angezogener Daumenschraube meerwärts – im Würgegriff der französischen Energiegewinnung, die Ufer beidseitig einbetoniert. Alle paar Kilometer folgt ein Flusskraftwerk. Die Farbe des Stroms verwandelt sich vom durchsichtigen in ein giftiges, krankes Blaugrün, dem man nicht knöcheltief traut. Bis zum Meer ist Baden in der Rhône tabu und strengstens verboten. Dafür wird die Landschaft zunehmend lieblicher, aber auch karger – und heller. Das Licht des Südens! Habt ihr mich je mit Sonnenbrille gesehen? Nein. Aber fortan trug ich eine! Die Velowege alle asphaltiert und bestens beschildert. Darin sind die Franzosen Weltmeister. Und wer auf den knapp 400 Kilometern von Lyon nach Marseille Rückenwind hat, weil der Mistral bläst, der gleitet dahin wie auf Flügeln fast ohne eigenes Mittun... Einfach meeega! Eine hügelige Landschaft bis weit nach Süden fasst die Stromufer ein, Dörfer und Städte setzen verträumte Akzente: Seyssel, Lyon (fantastisch schön), Valence (wunderprächtig), Montélimar, Orange und Avignon, und schliesslich erreichte ich Marseille. Die Stadt ist die bare Wucht. Quirliges Leben in der 3-Millionen-Metropole. Sie liegt eingebettet in Berge an einer felsigen Küste mit klarem Wasser und vielen Badeplätzen. Hoch oben trohnt die Basilika «Notre Dame de la Garde», von wo aus die Sicht über die Stadt unvergleichlich ist. Der alte Hafen und die Boulevards und Platanenalleen runden das Bild ab. Marseille ist x-mal interessanter als Paris, mais vraiment!
Anschliessend pedalte ich der Küste entlang Richtung Westen, durch die Camargue bis Sète.

Keine Polizei weit und breit!
20 Kilometer vor Arles geriet ich (wieder einmal, nicht selten in Frankreich) ungewollt auf die Autobahn. Entnervt fuhr ich stur geradeaus, begleitet vom ständigen Hupkonzert vorbeidonnernder Lastwagen. Dafür: ein Pannenstreifen so breit wie eine Landstrasse. Die Polizei versagte kläglich! Garantiert erhielt sie x-mal die Meldung: «Achtung Velofahrer, kommt schnell und zieht den aus dem Verkehr!» Fehlanzeige: Es eskortierte mich bis zur Ausfahrt in Arles kein Polizeiauto, es gab auch keine saftige Busse, und bereits am frühen Nachmittag war ich am Ziel. Ab Arles unternahm ich per ÖV einen Ausflug ins 37 km entfernte Saintes Maries de la Mer. Kostenpunkt: Ein (1) Euro. Vor Hinfahrt hatte der Bus eine halbe Stunde Verspätung, deshalb fragte ich den Chauffeur, ob der letzte Bus ab Saintes Maries – laut Fahrplan um 19.20 Uhr abends – auch tatsächlich und sicher fahre? «Mais bien sûr, Monsieur!» Und es kam kein Bus. So nahm ich das Taxi zurück, Kostenpunkt: 100 Euro.

Naja, halb so schlimm.
Nach Rückkehr stellte sich mir die Frage: Warum machen bei uns fast alle einen «Lätsch»? Kaum je ein freundliches Gesicht auf der Strasse. Tipp: Nehmt eure Velos und fahrt südwärts....

Eugen Benz

 

 

«Go West, young man!»