Frauenfelder Woche

Frauenfeld · 10.03.2021

«Es muss unsere Zielsetzung sein, die Leute sobald es wieder möglich ist, für das Gemeinsame, das Zusammensein zu begeistern»

Interview mit Ulrich Marti, Gemeindepräsident von Herdern

 

 

Welcher Leit- oder Grundsatz begleitet Sie als Gemeindepräsident durch den Alltag?
Zuallererst ist aus meiner Sicht eine gute Portion Gelassenheit für diese Tätigkeit vonnöten. Dies, um den sehr vielfältigen Herausforderungen und Anforderungen, welche diese Position an eine Persönlichkeit stellt, gerecht zu werden. Weiter verbessert sich damit die Möglichkeit, sich auf die Anliegen seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger mit all Ihren Sorgen und Nöten einzulassen und diese ernst zu nehmen.
Jederzeit ist das Bewusstsein zu schärfen, dass man es mit Sicherheit nie allen Recht machen und vor allem nicht allen Recht geben kann. Damit sehe ich die Kernaufgabe unsererseits, die Verfahrens- und Prozessabläufe korrekt, innerhalb der Rechtsordnung aber unter Ausnutzung der immer zur Verfügung stehenden Spielräume und unter dem notwendigen auch informativen Einbezug aller Beteiligten durchzuführen. Wenn wir am Schluss feststellen können, dass prozessual- und verfahrenstechnisch alles ordentlich abgelaufen ist, unabhängig vom inhaltlichen Ergebnis, dann haben wir einen guten Job gemacht.

Welche Herausforderungen stellen sich Ihrer Gemeinde – abgesehen von der Bewältigung der Corona-Krise – in den kommenden Wochen und Monaten?
Ich sehe eine grosse Gefahr in der gesellschaftlichen Entflechtung, die sich massiv im letzten Jahr, massgeblich Corona-bedingt, eingestellt hat. Es muss unsere Zielsetzung sein, die Leute sobald es wieder möglich ist, für das Gemeinsame, das Zusammensein zu begeistern und Möglichkeiten diesbezüglich in enger Zusammenarbeit mit unseren Vereinen und interessierten Einwohnerinnen und Einwohner zu schaffen. Damit kann dem zunehmenden gesellschaftlichen Egoismus begegnet werden.
Die Verfahren für und das Bauen ausserhalb der Bauzonen werden ein immer schwierigeres Thema. Wir können und wollen nicht verstehen, weshalb von Seiten Kanton die bestehenden Ermessensspielräume nicht auch zu Gunsten der Gemeinden und deren Bewohnerinnen und Bewohner in diesen Zonen wohlwollend genutzt wird. Gehören diese Streusiedlungen doch zu unserer Kulturlandschaft ebenso dazu und strukturieren und beleben diese in positiver Art und Weise mit. Brachliegende Ausbaupotenziale alter leerstehender Scheunen werden aktiv verhindert und können trotz bestehender Erschliessungsanlagen nicht ohne weiteres umgenutzt werden. Das muss sich dringend ändern!
Wie die meisten Thurgauer Gemeinden befinden wir uns nach wie vor in einer finanziell sehr guten Lage. Dennoch wird sich erst inskünftig zeigen, inwiefern diese privilegierte Lage anhält oder sich aufgrund der zukünftigen finanziellen Verpflichtungen, durch Corona mitverursacht, verschlechtert.

Wie schätzen Sie die verkehrstechnische Lage Ihrer Gemeinde ein (ÖV und Individualverkehr) und gibt es Verbesserungspotenzial oder -bedarf?
Hätte ich einen Wunsch frei, so würde ich mir vor allem zu den Hauptverkehrszeiten am Morgen und Abend im Bereich des öffentlichen Verkehrs den durchgängigen Halbstundentakt wünschen. Für den nicht motorisierten Verkehr laden vielerlei Strassen und Kieswege, fernab von den Hauptverkehrsachsen, ein, an sein Ziel zu gelangen aber auch für den motorisierten Individualverkehr sind wir sehr gut (fast zu gut) erschlossen. Diesbezüglich sollen die bevorstehenden Sanierungen der Ortsdurchfahrten gemeinsam mit dem Kanton dazu genutzt werden, die Strassenräume aktiv zu gestalten und zu optimieren, so dass wir von deren «Durchzugscharakter» wegkommen.

Welche Projekte sind aktuell die Wichtigsten für Ihre Gemeinde?
Die Digitalisierungswelle geht auch an uns nicht spurlos vorbei und wir sind auf dem Weg ins papierlose Büro mit elektronischer Geschäftsverwaltung. Gleichzeitig sind wir für unsere Kundinnen und Kunden bereit, die Rechnungen in den Bereichen Steuern und Technische Werke elektronisch zur Verfügung zu stellen. Im Infrastrukturbereich steht uns mit der Gesamtsanierung Gündelharterstrasse, dem Zusammenschluss mit der Wasserversorgung Massnahmenzentrum Kalchrain und dem Bau einer Erschliessung ein ziemlich abwechslungsreiches Jahresbauprogamm vor der Tür, welches wir nicht zuletzt auch noch finanziell zu verdauen haben. Weitere Themen sind die laufende Ortsplanungsrevision sowie generell die künftige Zusammenarbeit mit unseren Nachbargemeinden.

Haben Sie einen Wunsch an Ihre Bevölkerung?
«S'Füüfi au emol grad lo sii.» Ich stelle fest, dass im gegenseitigen Umgang die gute Portion Pragmatismus, das Aufeinander zugehen und die Offenheit für Lösungen generell abgenommen hat. Und dies nicht nur im politischen, sondern auch im zwischenmenschlichen Bereich. Der Geduldsfaden oder vielleicht noch besser die Zündschnur ist teilweise extrem kurz geworden.

Vielen Dank für das Interview.


Michael Anderegg