Frauenfelder Woche

Frauenfeld · 19.08.2020

Von Hunger und Kinderarbeit im Thurgau

Stefan Keller las im Bücherladen von Marianne Sax aus seinem neuen
historischen Werk «Spuren der Arbeit».

 

 

In einer grossen Reportage beleuchtet der Historiker und Autor Stefan Keller am Beispiel des Kantons Thurgau die Geschichte der Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert. Man erfährt von Stickerinnen und Dienstboten, von Kinderarbeit, Hungersnot und Streiks. Aber auch von mutigen Italienerinnen, die den Aufstand erprobten. Das Buch ist vor drei Monaten im Rotpunktverlag erschienen, nun geht Keller damit auf Lesetour. Am Samstag war er Gast im Bücherladen Sax respektive auf der eindrucksvollen Terrasse der Geschäftsliegenschaft, von deren Existenz wohl die wenigsten wissen, wenn sie den darunter liegenden Bücherladen betreten. Das Freiluftvergnügen wäre perfekt gewesen – eine spannende Lesung, im Westen die untergehende Sonne und im Osten ein multifarbig leuchtendes Riesenrad – wenn nicht leider die Geräuschkulisse von weiteren Veranstaltungen in der Stadt das Zuhören erschwert hätte.
In die Fabrik statt in die Schule
Keller legt in «Spuren der Arbeit» den Fokus auf das Arbeitervolk. Der Alltag war hart im 19. Jahrhundert, ein Kampf ums Überleben. Es sind Einzelschicksale wie auch solche von ganzen Dörfern, die auf den 232 Buchseiten beschrieben werden. So drohen etwa in Bichelsee nach der grossen Missernte 1816 die Menschen im folgenden Jahr zu verhungern. Auslöser der Katastrophe war ein Vulkanausbruch 1815 in Indonesien gewesen, der weltweit
dramatische klimatische Folgen verursachte. Auch Kinderarbeit ruft der Autor in Erinnerung. Diese ist zwar gesetzlich eingeschränkt, doch es hält sich niemand daran. Die boomende Ostschweizer Textilindustrie braucht die jungen Arbeitskräfte. Wer sich dagegen wehrt, stösst auf heftigen Widerstand von Unternehmen und Eltern. In die Fabrik statt in die Schule, an sechs Tagen in der Woche, erschien damals ganz normal. Die Wende kam erst 1877 mit der Einführung des eidgenössischen Fabrikgesetzes, das den Eintritt in die Fabrik generell vor dem 14. Altersjahr verbot.
Heute Mittwoch nimmt Stefan Keller Interessierte mit auf einen Lesespaziergang. Treffpunkt ist der Bahnhof Kurzrickenbach-Seepark, um 18 Uhr. Von dort gehts zum Seemuseum.

Evi Biedermann